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Michel Houellebecq

Michel Houellebecq gilt als einer der kontroversesten Autoren der Gegenwart. © Philippe Matsas / FlammarionMichel Houellebecq (Jahrgang 1958) ist ein Autor, bei dem Journalisten, Redakteure und Rezensenten immer das Gefühl zu haben scheinen, ihn beschreiben zu müssen – vielleicht deshalb, weil die äußere Erscheinung, das Auftreten des Franzosen in einem starken Gegensatz zu dem stehen, was er in seinen Büchern transportiert. So schreibt der SPIEGEL etwa über Houellebecqs Lesung seines Romans „Unterwerfung" in Köln, er wirke in seiner „Houellebecq-Uniform aus Parka, Gesundheitsschuhen und Schlabberhose […] wie seine eigene Karikatur: ein heruntergekommener Weiser aus dem Abendland, der auf dem Titelblatt des letzten "Charlie Hebdo" vor dem Terrorangriff zu sehen war.“ Für viele Leser war der Mann mit dem sperrigen Namen, den man "uelbek" ausspricht, bis Anfang 2015 ein Unbekannter, obwohl er bereits mehrere sehr gute Bücher veröffentlicht hatte, darunter „Karte und Gebiet“. Doch das änderte sich mit einem Schlag, als am 7. Januar 2015 der Anschlag auf die Pariser Redaktion von „Charlie Hebdo“ verübt wurde. Am gleichen Tag, als Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ erschien, eine Zukunftsvision, die ein islamisiertes Frankreich im Jahr 2022 beschreibt, zu einer Zeit, als in Deutschland Pegida, Legida und Bärgida gegen die vermeintliche Islamisierung des Abendlandes auf die Straße gingen.

Deshalb zu glauben, Houellebecqs Roman sei islamophob, oder Michel Houellebecq tauge zum allwissenden Weltendeuter, der Antworten auf jegliche Fragen hätte, die nun hochkochen, greift zu kurz und dringt nicht unter die Oberfläche dieser kurzen Zusammenfassung. „Unterwerfung“ ist vielmehr ein Roman, der auch – oder vielleicht gerade – jetzt mit einer gewissen Besonnenheit und Offenheit angegangen werden muss, wenn man vermeiden will, ihn zu Unrecht für die eine oder die andere Seite einzunehmen und damit seine Aussage zu verfälschen. Wenn Michel Houellebecq über die Zukunft in einem islamisierten Frankreich im Jahr 2022 schreibt, dann mit dem Ziel, Tendenzen der Gegenwart zutage zu fördern. Darin ähnelt „Die Unterwerfung“ George Orwells „1984“, einem Klassiker, der schon 1949 Tendenzen zeigte, die heute zu unserer Gegenwart gehören – die Überwachung jedes Einzelnen, die Überwachung aller durch alle. Für „Unterwerfung“ hat Houellebecq selbst „sensibel Ängste der Gegenwart aufgespürt – und fiktional weitergesponnen“ (Merkur Online). Bewusst macht er es seinen Lesern schwer, in dem er ihnen die Lösung bzw. den Ausweg aus dieser scheinbar alternativlosen Situation verweigert. Er erwartet von ihnen, dass sie ihr eigenes moralisches Scheitern erkennen und sich daraus befreien. Dafür braucht es einen erwachsenen, aufgeklärten Leser, der in der Lage ist, sich im Kantschen Sinne seines eigenen Verstandes zu bedienen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Wie dieses Urteil aussehen soll, gibt Houellebecq nicht vor – und gerade das macht es so leicht, den Roman in dieser hitzigen Debatte für die eine oder andere Seite zu vereinnahmen.

Lange Zeit stand Houellebecq, selbst diplomierter Landwirtschaftsingenieur, bei seinen Fans vor allem wegen seiner nachvollziehbaren Kritik an der dekadenten, selbstgefälligen und geistig stagnierenden Elite Frankreichs hoch im Kurs. Sex war das wiederkehrende Motiv seiner Werke, die nicht selten für Skandale sorgten. Auch „Unterwerfung“ ist davon natürlich nicht frei, denkt man doch schon beim Titel automatisch an „Shades of Grey“ und „Die Geschichte der O.“. Die sexuelle Unterwerfung der Frau ist ein zentrales Element seiner Zukunftsvision. Für Sineb El Masrar Herausgeberin des Frauenmagazins „Gazelle“ und muslimisch-arabische Bloggerin auf FAZ.net, stellt sich deshalb beim Lesen eine Erkenntnis ein, die auf den Kern der Sache zusteuert: „Saudi-Arabiens oder Irans Männergesellschaften sind für den französischen, nicht muslimischen Mann und den männlichen Westen offensichtlich attraktiver als es das Burkaverbot vermuten lässt. Das, worüber die westliche Männerwelt gestern noch verächtlich die Nase rümpfte, lässt sich plötzlich mitten in Europa sehnsüchtig zelebrieren.“ Für El Masrar wird die Islamisierung in Houellebecqs „Unterwerfung“ also nicht von außen aufgezwungen, sondern erwächst von innen heraus – und stellt damit, wenn man es so lesen will, nicht den Islam, sondern den vermeintlich aufgeklärten Westen an den Pranger. „In Houellebecqs Frankreich“, so schreibt Es Masrar, „eröffnet das schnell aufgesagte islamische Glaubensbekenntnis sodann alle Pforten für den Mann – beruflich wie privat. Der Opportunismus lässt grüßen.“

Houellebecq selbst erklärt im Interview mit der FAZ, dass die Personen in seinem Roman Menschen ohne Überzeugung seien. Der Islam ist also nur Mittel zum Zweck und könnte beliebig gegen eine andere Weltanschauung ausgetauscht werden. Seine Charaktere sind Opportunisten, die sich nicht dafür interessieren, wen sie anbeten. Sie seien vor allem vom Gefühl der Macht gefesselt, erklärt Houellebecq, der während der Arbeit an „Unterwerfung“ selbst vom indifferenten Atheisten zum reflektierten Agnostiker geworden sei. Selbst der Präsidentschaftskandidat, Mohammed Ben Abbès, sei kein besonders gläubiger Muslim, sondern „einer, der auf die Karte des Islams setzt, um an die Macht zu kommen.“ Houellebecqs Roman ist also weniger ein Buch über die Gefahren des Islams, sondern am Ende doch wieder eine Analyse der französischen Gegenwart und ihrer selbstgefälligen und geistig stagnierenden, moralisch versagenden Elite. Da ist, so Sineb El Masrar, zum Beispiel der allgemeine französische Mann, der „so lange schon mit der emanzipierten Frau hadert“ und nun sein Heil im Islam findet. Das moralische Totalversagen des Westens wird dem Leser auf dem goldenen Tablett serviert – und ist der eigentliche Kern von „Unterwerfung“.  Doch El Masra befürchtet, dass Houellebecqs Roman trotz allem nicht Weckruf geworden ist, den Michel Houellebecq zu schreiben versuchte. Denn seine Geschichte habe weniger „etwas mit Islam und Islamismus zu tun, als mit den alten westlichen Orientalismus-Phantasien.“ Er verpasse also die Chance auf eine „gründlichere Sozial- und Gesellschaftsanalyse Frankreichs.“

Erzählerisch sieht sich Michel Houellebecq übrigens in der Tradition des realistischen Romans, erklärte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „von Gustave Flaubert und Honoré de Balzac.“ Balzac folgend hat es sich Houellebecq zum Ziel gesetzt, „die Gesellschaft so zu beschreiben, wie sie sich unter den eigenen Augen verändert. Mit den neuen Ökonomien: dem Kapitalismus, der Macht der Bank, der Presse. Die Gesellschaft verändert sich immer noch, so dass die Mission von Romanautoren dieselbe sein kann.“

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