Es war einmal, im Reich der Märchen…
„Es war einmal…“ Mit diesen wenigen Worten beginnen die meisten Märchen - und damit allabendlich die Lesestunden in vielen Kinderzimmern Deutschlands. Es sind nur drei Worte und doch klingen sie unglaublich verheißungsvoll, öffnen die Tür in eine Welt, in der Tiere sprechen können, Prinzen in Frösche verwandelt werden und gute Feen dafür sorgen, dass einfache Mädchen auf dem Ball des Königssohnes tanzen dürfen.
Und das schönste daran: Von Anfang an haben wir in Märchen die Gewissheit, dass am Ende alles gut werden wird, mögen die Helden auch noch so große Strapazen erdulden und noch so große Ängste ausstehen müssen – am Ende heißt es immer: „… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
Warum Kinder Märchen lieben
Märchen sind ideal für Kinder: Sie folgen einem einfachen Muster, in dem sofort klar ist, wer gut und wer böse ist, ihre Handlung verläuft einsträngig und ist daher leicht verständlich und sie besitzen alle ein gutes Ende, das die Kinder glücklich und zufrieden in den Schlaf gleiten lässt.
Heinrich Dickerhoff, Präsident der Europäischen Märchengesellschaft, betonte im Gespräch mit dem Magazin Focus darüber hinaus die besondere Bedeutung der Märchen für die Entwicklung des Sprachschatzes der Kinder. Nicht selten beobachtet man Kinder, denen des Öfteren Märchen vorgelesen werden dabei, wie sie mit einem Märchenbuch, das sie noch nicht lesen können, in der Ecke sitzen und sich selbst, ihren Puppen und Kuscheltieren die Märchen erzählen. Das schult das Gedächtnis und die Sprache und leistet einen großen Beitrag zur geistigen Entwicklung des Kindes. Schon deshalb sollten die Märchen niemals aus den Kinder- und Klassenzimmern dieser Welt verschwinden, mögen auch moderne Trickfilme und Geschichten mit noch so vielen Effekten locken.
Märchen und ihre Funktionen
Märchen sollten jedoch keines Falls als Kinderbücher abgestempelt werden. Vielmehr sind sie eine uralte Methode, Wissen und Erfahrungen zu vermitteln. Das Wort Märchen selbst leitet sich von dem mittelhochdeutschen Begriff „maere“ ab, was so viel bedeutet wie Kunde, Nachricht, Botschaft, und schon das lässt erahnen, welche ursprüngliche Funktion die Märchen in einer Zeit erfüllten, in der es noch kein Fernsehen, kein Radio und keine Zeitungen gab und in der nur wenige Menschen lesen und schreiben konnten:
Sie dienten der Informationsvermittlung, berichteten von tatsächlichen Ereignissen oder wurden dazu verwendet, Wissen in eine leicht verständliche, anschauliche Form zu verpacken. Die vielen grausamen Elemente, die aus den heutigen Märchenbüchern für Kinder weitgehend verschwunden sind, deuten außerdem darauf hin, dass sie als Lebensanleitung zu verstehen waren. Lebenserfahrungen und Werte wurden in einfache Gleichnisse verwoben und zu Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Auf diese Weise wurde davor gewarnt, sich allein im Wald aufzuhalten, Fremden zu vertrauen und bestimmte Orte aufzusuchen, von denen bekannt war, dass sie gefährlich waren.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Märchen „Der Wolf und die sieben Geißlein“, das sich sehr gut auch auf unsere heutige Zeit übertragen lässt. Im Märchen geht die alte Geiß in den Wald und lässt die sieben Geißlein allein. Sie warnt ihre Kinder noch vor dem bösen Wolf und erklärt, woran er zu erkennen sei. Zwar achten die Geißlein auf die Merkmale, die die Mutter beschrieben hat – raue Stimme, schwarze Pfoten – doch dem listenreichen Wolf gelingt es, die Geißlein zu täuschen, sodass sie ihm, im festen Glauben, er sei die Mutter, die Tür öffnen und er sie alle (bis auf eins) verschlingt. Zu allen Zeiten hatte das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein die Funktion, Kinder vor Fremden zu warnen. Im Zeitalter des Internets ist das Märchen aktueller denn je, denn hier ist es den Kindern unmöglich, ihr Gegenüber richtig zu sehen und einzuschätzen, wer sich hinter dem jeweiligen Profil verbirgt. So wird das Internet zur Tür ins Kinderzimmer. Und so wie sich der Wolf mit von Kreide weicher Stimme und von Mehl weißer Pfote ins Haus der Geißlein stahl, so ist es für Menschen unterschiedlichster Absichten möglich, sich mit gefälschten Profilen in das Leben der Kinder zu stehlen. Einer Gefahr, der man durch das Vorlesen und gemeinsame Besprechen von Märchen wie diesem entgegenwirken kann.
Und wenn die Märchen nicht gestorben sind, dann lesen wir noch heute
Noch heute haben wir über die Märchen und Sagen Zugang zu diesen uralten Botschaften. Studien ergaben, dass schon kleine Kinder die Symbolsprache der Märchen verstehen und deuten können und dass sie deren Inhalt deshalb ganz einfach aufnehmen können. Und in ihrem Verständnis und ungetrübtem Gerechtigkeitsempfinden haben auch die Grausamkeiten einen Platz, wenn die böse Königin in glühenden Schuhen tanzen muss, bis sie stirbt, oder wenn die Hexe im Ofen verbrennt.
Und so sollten wir es mit Jacob Grimm halten, der im Nachwort der ersten Ausgabe der Grimmschen Märchen von 1812 schrieb: "Das Märchenbuch ist mir daher gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht, und das freut mich sehr.", und den Kindern auch heute noch Zugang zum alten Märchenschatz und seinen magischen Welten gewähren.
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