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Die Wiederentdeckung der Gedichte

 

Dichter, der Gedichte auf dem Laptop schreibtGedichte fangen da an, wo alle anderen Worte versagen, wo sich Gefühl nicht mehr in saubere Sätze kleiden lässt. Gedichte erlauben es dem Fühlenden, das Ungreifbare, das Fragmentarische, nicht selten Chaotische, Unstrukturierbare sichtbar zu machen. Sie brechen die Form der Sätze auf und nehmen Subjekt, Prädikat und Objekt die Daseinsberechtigung. Form follows function. Die äußere Form wird zum Träger des Inhalts. Wo ein Roman viele Worte braucht, zielen Gedichte mit wenigen Worten auf den Kern, erschließen sich in komprimierter Form das Wesen der Dinge. Ein Dichter kann deshalb an einer einzelnen Zeile eines Gedichtes so lange sitzen, wie ein Romanautor an einem ganzen Kapitel seines Buches. Wenn Katja Wüstenhöfer in ihrem Gedichtband „Meine Stille ist laut“ in ihrem Gedicht „Vernetzt“ von „Verbindungsnebel“ spricht, oder vom „Sprachblick, der schweigend verrät“, dann verbirgt sich hinter diesen Wortschöpfungen eine ganze Welt der Bedeutungen. Sie schreibt vom „Körperfunken“ und überlässt es dem Leser, was er darunter versteht, wie er sich selbst in diesem Gedicht reflektieren möchte. Das, was der Dichter schreibt, muss sich nicht sofort offenbaren, es muss nicht verständlich sein und für alle Leser das Gleiche bedeuten. Gedichte sind so subjektiv, wie Literatur nur sein kann. Dem Dichter stehen zahllose Stilmittel zur Verfügung, mit denen er aus den Vollen schöpfen kann. Sie alle haben keine andere Funktion, als sein Innerstes nach außen zu kehren.

 

Entzauberte Gedichte neu entdecken


Ein Herz, ein Gefühl kennt keine Grammatik. Es lässt sich nicht in konventionelle Formen pressen, nicht erzwingen.  In der Schule hat man uns mit Analysen von Gedichten gequält und der Literaturgattung in ewigen Interpretationen den Zauber genommen. Für viele Menschen sind Gedichte auch lange nach der Schulzeit deshalb mit negativen Gefühlen verbunden. Gedichte zwingen den Leser dazu, sich mit den wenigen Worten, die sie liefern – manche Gedichte von Katja Wüstenhöfer zum Beispiel haben nicht mehr als 21 Wörter – auseinanderzusetzen. Ein einmaliges Lesen reicht nicht, um sich ein Gedicht zu erschließen. Doch in der Schule wurde vielen von uns die Freude am Umgang mit Sprache in Gedichten gründlich vermiest. Wenn Wüstenhöfer das wortkarge Gedicht „Unter Null“ mit dem alleinstehenden Wort „Gedankenfrost“ beginnt, dann freut sich ein Teil von uns über diese wunderschöne Wortneuschöpfung. Zugleich aber versuchen wir zu ergründen, was die Autorin uns damit sagen wollte. Statt uns der Assoziation hinzugeben, versuchen wir, auf die Werkzeuge zurückzugreifen, die man uns in der Schule für diese Aufgabe an die Hand gegeben hat. Doch Wüstenhöfers Gedichte sind wortgewordene Gefühle. Den strengen Mustern von Kreuz- und Paarreim haben sie entsagt. Diese klassischen Stilmittel sind eine Möglichkeit, etwas zum Ausdruck zu bringen, doch sie entsprechen den Gefühlen nicht, die die Dichterin vermitteln möchte. Ein Dichter muss seine ganz eigene Form finden, um das, was in seinem Inneren ist, zum Ausdruck zu bringen. Die Texte eines Dichters können deshalb nur selten den Gedichten eines anderen ähneln, denn sie beide sehen die Welt durch eine ganz andere Brille.

 

Wer hat sich noch nie gefragt, wie die Welt durch die Augen eines anderen Menschen aussieht? Sieht er Grün genauso wie ich? Wie fühlt sich dieser Moment für ihn an, ist Liebeskummer für alle Menschen gleich? Zerreißt Abschiedsschmerz jeden Menschen in zwei sich krümmende Hälften? In der Regel können wir die Perspektive nicht wechseln, doch das subjektive Wesen der Gedichte erlaubt es uns, die Brille des Dichters aufzusetzen. Je individueller sein Stil ist, je näher er mit seiner Wortkunst dem kommt, was in seinem Inneren ist, desto intensiver erleben wir die Färbung unserer Realität, desto stärker die Eindrücke, desto intensiver das Erleben von Gedichten. Und dann erkennt man sich selbst in der Seele des Dichters wieder und staunt. Ja, es gibt tatsächlich einen Menschen, der genauso fühlt wie ich. Gute Gedichte lassen uns glauben, dass sie genau das, was uns bewegt, in so treffende Worte fassen konnten, wie wir es selbst niemals hätten tun können. Das mag manchmal eine Täuschung sein, weil wir in Gedichten auch in einen Spiegel schauen. So subjektiv der Prozess des Gedichteschreibens ist, so subjektiv ist auch das Lesen derselben. Sie lassen so große Deutungsspielräume, dass wir frei sind, das daraus zu lesen, was wir darin lesen wollen. So fühlen wir uns selbst dann von Gedichten verstanden, wenn wir das Gefühl des Autors nicht teilen.

 

Eintauchen in die emotionale Welt der Gedichte


Unterschrift unter einem GedichtFür beide Formen des Verstehens jedoch müssen wir uns auf das Gedicht einlassen können, auf die Freude am Spiel mit den Worten, auf die scheinbare Leichtigkeit der Formulierungen, an denen der Dichter mitunter lange geformt hat, an den Wortneuschöpfungen, die vielleicht nur dieses eine Mal genau treffend sind, am Aufbrechen der Formen und Regeln. Dafür müssen wir vergessen, wie sehr wir uns in der Schule mit den Analysen von Gedichten gequält haben. Wer als Erwachsener Gedichte liest – eben weil er sie lesen will, nicht weil er es muss – der entdeckt nämlich, dass es noch eine ganz andere Art und Weise gibt, Gedichte zu verstehen. Sie ist viel intuitiver, assoziativer. Katja Wüstenhöfer spricht von „Missgunstgesichtern“, von „Schrottgeschwätz“ und vom „Schöpfungszeiger“, der im Jetzt tickt, während Köpfe rasend übers Zifferblatt rollen. Es sind starke Worte, derer sich die Dichterin bedient, sie wecken sofort Gefühle und Assoziationen in uns, beschwören Bilder herauf. Wir können schon anhand dieser Wortschöpfungen intuitiv begreifen, welche Grundstimmung den Gedichten zu Grunde liegt. Diese Worte sind die Schlüssel der Gedichte, sie öffnen uns die Türen zur Bedeutung, die im Text verborgen liegt. Die kann man finden, wenn man mit dem Rotstift Markierungen am Text vornimmt, bis dieser darunter verschwindet und von der Deutung des Analysierenden erschlagen wird. Oder man lässt den Text so wirken, wie ihn der Autor geschrieben hat, lässt dem Gedicht seine ganz individuelle Stimme und lauscht ihm einfach. Mehrmaliges Lesen, Lesen in verschiedenen Gemütszuständen, zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten entlockt den Gedichten dann, was die Dichterin tatsächlich sagen wollte. Wenn sich Gedichte also schnell weglesen lassen, dann heißt das nicht, dass man sie einmal liest, durchdringt und dann zur Seite legt. Es heißt nur, dass sie sich umso häufiger lesen lassen und zu treuen Begleitern werden können.

 

Das ist mit den Gedichten aus „Meine Stille ist laut“ so, aber das ist auch bei den Gedichten von Robert Burns, bei Charles Baudelaires „Die Blumen des Bösen“, bei den Gedichten von Friedrich Hölderlin, bei Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe und Sir William Blake nicht anders. Legen Sie Ihre Vorurteile gegenüber Gedichten ab und wagen Sie einen Versuch in der Welt der Lyrik. Sie werden erkennen: Wir sollten viel häufiger Gedichte lesen.

 

Mit unseren ausgewählten Gedichtbänden können Sie gleich damit beginnen:


Klassische Gedichte

 

Moderne Gedichte

 

Lesen Sie auch mehr über das Drama und die Epik, die beiden anderen Literaturgattungen neben der Lyrik.

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