Bodo Kirchhoff
Wenn man Bodo Kirchhoff (Jahrgang 1948) sein eigenes Leben erzählen lässt, dann liest sich das schon wie ganz große deutsche Literatur – jene Literatur eben, für die Bodo Kirchhoff berühmt ist. In „Legenden um den eigenen Körper“ schildert er seine Mutter als „Wienerin aus bürgerlich-nervösem Haus", „besessen von der Vorstellung, ihr Nobody-Sein zu beenden“, den Vater, einen gutaussehenden Kriegsverletzten, beschreibt er als „besessen von dem Wunsch, etwas herzustellen, Fabrikant zu werden“ und dabei stets unter Druck, Geld für das Nötigste der Familie verdienen zu müssen.
Über sich selbst schreibt Bodo Kirchhoff darin, er wäre „von der Außenwelt vollkommen unbemerkt, […] mit viereinhalb größenwahnsinnig“ geworden. Den Umzug nach Kirchzarten im Schwarzwald, von dem sich der Vater „günstigere Bedingungen für seine inzwischen aus dem Boden gestampfte Fabrikation medizinischer Geräte“ erhoffte, quittiert Kirchhoff mit den Worten, er habe von dem katholischen Flecken Kirchzarten damals in seinem Größenwahn geglaubt, „er stelle mit diesem Namen ein natürliches Entgegenkommen an den eigenen Namen dar." Nach der Scheidung der Eltern kam Bodo Kirchhoff Ende der 1950er Jahre ins Internat in Gaienhofen am Bodensee. „Von einem Tag zum anderen, ja fast von einem Augenblick zum nächsten, fand sich das Kind in einer Umgebung wieder, die eine geheime Fortsetzung des Dritten Reiches genannt werden darf, unter protestantischen Vorzeichen“, heißt es über diesen Umzug in „Legenden um den eigenen Körper“.
Dort wurde Bodo Kirchhoff zum selbsternannten „Herausgeber“ der Schülerzeitung, träumte davon, später beim SPIEGEL zu arbeiten. Kafka, Camus, Moravia, Frisch, Brecht und Johnson waren seine steten Begleiter in diesen Jahren und die Begegnung mit Martin Walser besiegelte den Beschluss – oder wie Kirchhoff es selbst nennt „die Selbstvorhersage“ – Schriftsteller werden zu wollen. Seine Zeit bei der Luftwaffe in Mengen hakte Bodo Kirchhoff als eine jener Prüfungen im Leben ab, durch die man besser durchfällt. 1971 war er 21 Jahre alt und fühlte sich schon am Ende; „und so tat ich, was viele schon getan haben, wenn ihnen hier alles aussichtslos erschien: ich ging nach Amerika.“ Schon ein Jahr später kehrte er zurück, um endlich in sein persönliches Mekka, nach Frankfurt, zu gehen.
„Frankfurt, weil dort der Verlag war, aus dem die neue Literatur hervorging: in seiner Nähe zu sein schien mir ein Stachel, der mich wieder zum Schreiben führen könnte; Frankfurt aber auch, um dort Pädagogik zu studieren - ein Fach, in dem man damals machen konnte, was man wollte.“So zum Beispiel auch Schriftsteller werden. 1979 veröffentlichte Bodo Kirchhoff seinen Erstling, das Drama „Das Kind und die Vernichtung von Neuseeland“. Solche seltsamen Titel sollten zu einem der Markenzeichen des Autors werden. Die ZEIT nannte das Werk damals „ein Debüt zum Fürchten“, doch Bodo Kirchhoff ließ sich nicht beirren. Seine darauffolgende Novelle „Die Einsamkeit der Haut“ „war genau die Geschichte, die [er] schreiben konnte und das in überwiegend torsohaften, auf penible Weise unvollständigen Sätzen." Bis heute ist das der typische Kirchhoff-Stil geblieben. Es folgten viele Reisen, mehrere Geschichten, eine Heirat und die Geburt seines Sohnes Claudius. 1990 dann der erste Roman: „Infanta“, dessen Entstehung für Bodo Kirchhoff abenteuerlicher war als sein Inhalt, denn das Handwerkszeug des Romaneschreibens musste sich der Schriftsteller erst noch aneignen.
Es folgten weitere Romane, „Der Sandmann“, „Parlando“ und schließlich 2002 „Schundroman“, dazwischen Dramen, Tage- und Drehbücher. Kirchhoff selbst nennt „Schundroman“ ein „Stück Trash“, das er als Antwort auf den Müll geschrieben habe, „von dem man umgeben ist, auf die Massenmedien, von denen für meine Arbeit die größte Bedrohung ausgeht“, wie er der Zeitschrift „Literaturen“ erklärte. Das Buch wurde mit dem Kritikerpreis des Verbandes der deutschen Kritiker ausgezeichnet und erhielt den Preis der LiteraTour Nord. „Wo das Meer beginnt“ (2004) sorgte erneut für Aufmerksamkeit. Darin schreibt Bodo Kirchhoff von der vermeintlichen Vergewaltigung einer Schülerin durch ihren Lehrer. Kirchhoff sagte gegenüber dem NDR-Bücherjournal, das löse „natürlich bei jedem dieser Lehrer die eigene, unausgesprochene Sexualität aus. Und mit diesem Thema sind sie überfordert. Mit diesem Thema sind viele überfordert. Das ist ja normal." Weitere Erfolge schlossen sich mit „Die kleine Garbo“ und „Der Prinzipal“ an. Die WELT am Sonntag urteilte damals: „Mit seinen knapp sechzig Jahren erscheint Kirchhoffs Schreiben jugendlicher und befreiter denn je. Diese Leichtigkeit, dem Leben, dem Tod gegenüber, trägt Hoffnung in sich, die auf den Leser übergeht."
In der Folge gab es den einen oder anderen schwächelnden Roman, doch mit „Verlangen und Melancholie“ zeigte sich Bodo Kirchhoff einmal mehr auf der Höhe seines Könnens. Seine Poetisierung des Lebens ist in der deutschen Gegenwartsliteratur selten geworden. DIE WELT meint, Kirchhoff führe in „Verlangen und Melancholie“ die „großen Themen seines Werkes zusammen“ und für den KULTURSPIEGEL ist ganz klar: „So brillant wie der reife Bodo Kirchhoff können nur wenige über das Wesen des Schmerzes, des Begehrens und der Liebe schreiben.“ Dem können wir uns nur beherzt anschließen. Auch auf die Gefahr hin, dem vermeintlichen Größenwahnsinn des Autors neues Futter zu geben.
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