Helen MacDonald
Die britische Autorin Helen MacDonald (Jahrgang 1970) erlangte in Deutschland mit einem kleinen Büchlein Bekanntheit, das auf den ersten Blick so unscheinbar daherkommt, dass man es wohl fast übersehen würde – das dann aber so tief berührt, dass man es für immer ins Herz schließt. „Sicher das ungewöhnlichste und stärkste Buch, das sich seit Langem auf eine deutsche Bestsellerliste verirrt hat“, schrieb Denis Scheck für den Tagesspiegel. Gemeint ist „H wie Habicht“, MacDonalds sehr persönlicher, sehr emotionaler Bericht über die Zähmung eines Greifvogels. „Der Habicht war all das, was ich sein wollte“, schrieb Helen MacDonald darin. „Ein Einzelgänger, selbstbeherrscht, frei von Trauer und taub gegenüber den Verletzungen des Lebens.“
Schon als Kind hatte die Autorin beschlossen, Falknerin zu werden. Die edlen Tiere beeindruckten sie mit ihrer Stärker und ihrer Unabhängigkeit. Sie sei regelrecht besessen gewesen, erzählte sie Denis Scheck 2015. Sie habe sogar versucht, ihre Arme wie ein Vogel auf dem Rücken zu halten und so zu schlafen. Bereits in sehr jungen Jahren eignete sie sich das komplizierte Fachvokabular der Falknerei an – eher Geheimsprache als Berufsjargon. Sie las alles über die Kunst, Greifvögel zu zähmen, was sie in die Hände bekommen konnte, und erfuhr in ihrer Begeisterung immer große Unterstützung durch ihren Vater, der die wichtigste Bezugsperson in ihrem Leben bleiben sollte, bis er starb. Danach geriet das Leben von Helen MacDonald, inzwischen Historikerin geworden, aus den Fugen. Nun setzte sie alle Hoffnung auf ihren großen Traum: Sie wollte einen eigenen Habicht abrichten – und durch ihn Heilung von ihrer Trauer erfahren. Durch die Stärke und Wildheit des Tieres erhoffte sie sich, selbst wieder stark und unabhängig zu werden.
„Er war wild, litt nicht unter menschlichen Gefühlen. Außerdem war er mordlustig und blutdurstig. Wenn man einen Menschen verliert, der einem sehr nahe steht, dann steckt man voller Wut und Kummer über die Ungerechtigkeit der Welt. Alles, was ich damals sein wollte, sah ich in meinem Habicht.“ Ihr Habichtweibchen, Mabel, war ein beeindruckendes Tier, wild und stolz – eine große Herausforderung und der Beginn eines großen Abenteuers für Helen MacDonald. In ihrem Buch „H wie Habicht“ beschreibt sie auf eine sehr kraftvolle, liebevolle und eindringliche Art und Weise, wie sie sich diesem wildesten aller wilden Tiere nährte, sie schreibt von Natur und Freiheit, von den Sehnsüchten des modernen Menschen, der sein Heil in der Rückkehr zu den Wurzeln sucht, und sie schreibt davon, wie zwischen einem Menschen und einem Tier eine Verbindung entsteht, die man wohl als Freundschaft verstehen kann. „Eine unglaubliche Leistung, und Mabel ist der Star“, jubelte John Carey in der Sunday Times, als „H wie Habicht“ 2014 erschien. „Mit seiner Anmut, seiner überragenden, beinahe furchterregenden Eleganz fesselt dieses Buch den Leser und lässt ihn nicht mehr los. Was für eine Entdeckung!“, schrieb Erica Wagner über Helen MacDonald und ihr Buch.
Im gleichen Jahr noch erhielt MacDonald für ihr Buch die Auszeichnung als Costa Book of the Year 2014. In der Begründung der Jury hieß es: „Ein einzigartiges und wunderschönes Buch, von geradezu schmerzhafter emotionaler Aufrichtigkeit und in einer anschaulichen Sprache verfasst, die in der zeitgenössischen Literatur Ihresgleichen sucht.“ 2015 kam das Buch nach Deutschland und fand auch hier schnell seinen Weg in die Feuilletons und Bestsellerlisten. Wenn Helen MacDonald Interviews gibt, wie etwa in „Druckfrisch“ mit Denis Scheck, ist in der Regel auch ein Habicht im Bild und der Zuschauer kann sich davon überzeugen, wie schnell die Autorin eine Verbindung zu ihm aufbaut. Und das sogar, obwohl Mabel nicht mehr am Leben ist. „Wenn ich mit meinem Habicht jagen ging, hatte ich das Gefühl, selbst ein Habicht zu werden. Wie eine Metamorphose“, erzählte sie Denis Scheck. In dieser Zeit habe sie sich in eine Steinzeitfrau verwandelt, sei jeden Morgen aufgestanden und mit ihr zur Jagd gegangen. „Ich habe dabei verlernt, ein Mensch zu sein, meine Welt wurde deckungsgleich mit der Welt eines Habichts, eine sehr verstörende psychologische Erfahrung“, erinnert sie sich heute.
„Wenn man darüber schreiben möchte, muss man sich selbst in den Geist eines Habichts versetzen und jene Begriffe gebrauchen, die man seit Jahrtausenden für die Vogeljagd benutzt.“ Fünf Jahre, nach dem, was Helen MacDonald heute die finsteren Zeiten nennt, hatte sie endlich den nötigen Abstand, um darüber schreiben zu können, was sie damals erlebte, als sie sich mit ihrem Habicht in die Unterwelt, wie sie sagt, begab, um sich mit dem Tod auseinander zu setzen – einer sehr unmittelbaren Erfahrung, wenn man mit einem Raubtier zusammenlebt. Das Ergebnis ist beeindruckend und kraftvoll geworden, ein starkes Stück Nature Writing – und definitiv kein Buch von der Sorte „Es ging mir schlecht, aber dann habe ich mir eine Katze gekauft“, wie MacDonald humorvoll erklärt. „Es ist ein Sachbuch darüber, wie es ist, die Welt neu lesen zu lernen, nachdem alles bislang sicher geglaubte kaputt und in Scherben gegangen ist“, definiert sie „H wie Habicht“ stattdessen. „Ein Buch, das Flügel verleiht“, schließt Denis Scheck das berührende Interview schließlich ab – und da kann man ihm nur beipflichten.
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