Marcel Reich-Ranicki
Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013) war der einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker der Gegenwart. Seine Stimme hatte im deutschen Literaturbetrieb mehr Gewicht als jede andere. Sein Urteil war gefragt, doch genauso sehr gefürchtet. Rücksichtsvoll zu sein oder seine Meinung in geschönter Form zu verkünden, war seine Sache nicht. Er war ein Mann, der zu seiner Meinung stand – als Kritiker, aber auch als Person des öffentlichen Lebens. Bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises sorgte er damit 2008 für einen Eklat. In seinen Memoiren unter dem Titel „Mein Leben“ erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki im Alter von 79 Jahren an sein bewegtes Leben. Das Buch ist ein Stück Zeitgeschichte, denn schon seine frühe Jugend war von den dramatischen Umwälzungen der 1930er Jahre geprägt. Trotz seiner polnisch-jüdischen Herkunft konnte Ranicki 1938 in Berlin das Abitur ablegen, wo er bei Verwandten lebte. Seine Immatrikulation an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität wurde hingegen abgelehnt. Im selben Jahr wurde er nach Polen abgeschoben, wo er kurz darauf zur Umsiedlung in das Warschauer Ghetto gezwungen wurde.
1943 gelang ihm und seiner Frau, Teofilia Langnas, die er hier kennenlernte, als sich ihr Vater erhängte, die Flucht und sie fanden Unterschlupf bei dem Schriftsetzer Gawin. Den Krieg überstand Ranicki durch das Nacherzählen von bedeutenden Romanen der deutschen und englischen Literatur. Schnell merkte Reich-Ranicki, dass seine Überlebenschancen größer waren, je besser und dramatischer er erzählte. Harald Jähner nannte das in einer Besprechung einer Biografie über Marcel Reich-Ranicki ein „um sein Leben erzählen“, das stark an Sheherazade aus „Tausendundeine Nacht“ erinnere. So überlebte das Ehepaar bis zur Befreiung, während Reich-Ranickis Eltern in den Gaskammern von Treblinka ums Leben kamen. Nach einer jahrelangen Geheimdiensttätigkeit für die polnische kommunistische Geheimpolizei UB, die er aus Dankbarkeit für die Befreiung begonnen hatte, wandte sich Reich-Ranicki 1951 der Literatur zu und begann, als freier Schriftsteller zu arbeiten.
Seit 1958 war er als Literaturkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)tätig und ab 1988 leitete Ranicki die Sendung „Das Literarische Quartett“ im ZDF. 1958 gilt als das Jahr des Umbruchs im Leben von Marcel Reich-Ranicki. Der Zeit davor widmet er in seinen Memoiren den meisten Platz und hielt akribisch fest, was er erlebt hatte. Die Zeit danach wird nur noch fragmentarisch, spotlichtartig beleuchtet. Seit Beginn seiner Anstellung bei der FAZ galt er als „Literaturpapst“ und veröffentlichte als solcher den „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ im SPIEGEL.
"Deutlichkeit ist die Höflichkeit des Kritikers" - Marcel Reich-Ranicki
In diesem Zuge entstanden auch die 5 Reihen „Der Kanon. Die Deutsche Literatur“, zu dem auch die Bücher „Der Kanon. Die Deutsche Literatur: Gedichte“ (2005) und „Der Kanon. Die Deutsche Literatur: Essays“ (2006) gehören. In seiner Autobiografie bedauert es Marcel Reich-Ranicki, niemals ein Universitätsstudium absolviert zu haben. Doch vermutlich wäre aus ihm nie der Mensch geworden, der er wurde, hätte er eine Universität besucht. Ein Leser kommentiert dies in seiner Rezension auf Amazon so: „Es scheint mir, dass grade dieser Umstand maßgeblich zu seiner heutigen Prominenz und Ausnahmestellung beigetragen hat: Die Fähigkeit eine dezidierte Meinung zu haben, und sie auch klar und verständlich auszudrücken, hätte ihm die deutsche Universität mit großer Wahrscheinlichkeit ausgetrieben.“ Für diese Fähigkeit sollte Marcel Reich-Ranicki 2008 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet werden. Doch Laudator Thomas Gottschalk erhielt eine Abfuhr vom großen Kritiker: „Ich nehme diesen Preis nicht an“, sagte er. „Ich gehöre nicht in die Reihe dieser Preisträger. Ich habe nicht gewusst, was mich hier erwartet. Ich finde es schlimm, dass ich das hier viele Stunden ertragen musste. Diesen Blödsinn, den wir hier zu sehen bekommen haben.“ Damit beschämte Marcel Reich-Ranicki ein ganzes Land und hielt ihm einen Spiegel vor, dessen Bild nur schwer zu ertragen war. Einmal mehr zeigte er sich als intellektuelles Gewissen des Landes, als jemand, der die Trivialisierung von Kultur nicht einfach so hinnehmen wollte.
Am 18. September 2013 starb Marcel Reich-Ranicki im Alter von 93 Jahren. Bereits im März des Jahres hatte er seine Krebserkrankung bekannt gegeben. Die Feuilletons nahmen großen Anteil am Tod des großen Literaturkritikers, der nun eine klaffende Lücke im deutschen Literaturbetrieb zurücklässt. In ihrem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung fasste Ruth Schneeberger sein Wesen in der Alliteration "meistgelesen, meistbeobachtet, meistgefürchtet" sehr gut zusammen. In den Tagen nach seinem Tod überschlugen sich die Blätter förmlich mit Lobeshymnen auf Marcel Reich-Ranicki. Die FAZ würdigte ihren ehemaligen Kritiker in ihrem Nachruf als einen „sehr großen Mann“ und seine Arbeit als „permanenten Protest gegen Langeweile und Mittelmaß“. Dort nennt Herausgeber Frank Schirrmacher, der Reich-Ranicki noch am Tage seines Todes besucht hatte, ihn „in Verfolgung und Ruhm die Personifikation des zwanzigsten Jahrhunderts“. All das ist Grund genug, seine 1999 erschienene Autobiografie, „Mein Leben“, (noch einmal) zur Hand zu nehmen. Unweigerlich fragt man sich, wie er sie selbst literarisch eingeordnet hätte, wären es nicht seine eigenen gewesen. Welche Ansprüche stellt ein Literaturkritiker an sein eigenes Werk? Immerhin sechs Jahre schrieb er an dem knapp 600 Seiten umfassenden Werk, das kurz nach seinem Erscheinen mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle als "Marcel Reich-Ranicki - Mein Leben" verfilmt wurde. Man kann also davon ausgehen, dass er sich selbst dabei immer wieder auf den Prüfstand stellte und das Ergebnis dem entsprach, was der große Kritiker von einer guten Autobiografie erwarten würde. Buch und Film wurden zu wichtigen Zeitdokumenten der deutschen Geschichte.
Unsere Buchtipps - Diese Bücher von Marcel Reich-Ranicki empfehlen wir Ihnen:
- Der Kanon. Die deutsche Literatur. Essays
- Der Kanon. Die deutsche Literatur. Gedichte
- Die besten deutschen Erzählungen
- Die besten deutschen Gedichte
- Mein Leben
- Thomas Mann und die Seinen
- Über Amerikaner: Von Hemingway und Bellow bis Updike und Philip Roth
- Über Ruhestörer: Juden in der deutschen Literatur
Lesen Sie auch "Marcel Reich-Ranicki: Die Biografie" von Uwe Wittstock, um mehr über ein großes Stück deutscher Kultur- und Literaturgeschichte zu erfahren.
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