Lew Tolstoi
Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828 – 1910), den man in Deutschland auch häufig unter dem Namen Leo Tolstoi kennt, war einer der bedeutendsten Schriftsteller Russlands. Seine Hauptwerke, „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“, gehören nicht nur zu den größten Werken der russischen Literatur sondern auch zu den bedeutendsten Texten der Weltliteratur.
Lew Tolstoi war ein Vordenker, ein Querdenker – überhaupt ein Denker. Sein Leben lang war er auf der Suche nach Antworten auf religiöse und spirituelle Fragen, die ihn umtrieben. Als Laientheologe und Religionsphilosoph war er stets auf der Suche nach einer geeigneten Lebensform für sich, scheiterte aber immer wieder daran, seine theoretischen Ansätze auch praktisch auf sein Leben zu übertragen. Tolstoi entstammt einem alten russischen Adelsgeschlecht und wuchs auf dem Stammgut der Familie in Jasnaja Poljana auf.
Schon früh, im Alter von nur neun Jahren, verlor er beide Eltern und wurde anschließend von der Schwester seines Vaters aufgezogen. Er studierte orientalische Sprachen an der Universität von Kasan und später dann Jura, brachte aber weder das eine, noch das andere zu Ende. Einer plötzlichen Eingebung folgend, kehrte er auf das Familiengut zurück, um dort die Lage der 350 geerbten Leibeigenen zu verbessern. Der junge Lew Tolstoi war wankelmütig und ein Müßiggänger, sprunghaft war er heute hier, morgen da. Er reiste herum, machte Spielschulden und nahm das Leben im Allgemeinen nicht allzu ernst. Als Artilleriefähnrich in der zaristischen Armee kämpfte er im Kaukasus und im Krimkrieg, hatte aber keinerlei Ambitionen, sich befördern zu lassen. Zur gleichen Zeit aber zeigte er erstmals einen Hang zum Schreiben. Seine realistische Kriegsberichterstattung aus dieser Zeit machte ihn bald darauf als Schriftsteller bekannt. Seine frühen Kaukasus-Erzählungen speisen sich aus den Erfahrungen, die Lew Tolstoi während des Krieges gemacht hatte. Von 1852 bis 1857 schrieb Leo Tolstoi seine Trilogie „Kindheit“, „Knabenjahre“ und „Jünglingsjahre“. Sie bilden den Beginn seines großen Gesamtwerkes.
Nach dem Krieg wandte sich Tolstoi einmal mehr seiner Leidenschaft, dem Reisen, zu. Er bereiste Westeuropa und traf sich hier mit führenden literarischen Köpfen. Sein besonderes Interesse galt der Bildung und so regte er nach seiner Rückkehr von Rousseau inspirierte reformpädagogische Veränderungen an. In einem Brief schrieb er: „Ich will Bildung für das Volk einzig und allein, um die dort ertrinkenden Puschkins, […] Lomonossows zu retten. Und es wimmelt von ihnen an jeder Schule.“ In den von ihm gegründeten Dorfschulen sah er das Potenzial künftiger großer Literaten schlummern und setzte alles daran, sie zu entdecken und zu fördern. Zu diesem Zweck schrieb Leo Tolstoi sogar eigene Lehrbücher. Sein Buch „Alphabet“ galt lange Zeit als das Standardwerk der Grundschulbildung in Russland. Ähnlich engagiert war er auch bei der Bildung und Erziehung seiner eigenen 13 Kinder, die er mit der deutschstämmigen Sofia Andrejewna Behrs hatte. Doch seine Reformbestrebungen gingen noch weiter. Um die Landflucht aufzuhalten, unterstützte er von Missernten betroffene Bauern seiner Heimat und half ihnen bei der Umstrukturierung. Seinen Idealen folgend, ernährte sich Lew Tolstoi außerdem vegetarisch, verzichtete auf jegliche Genussmittel und setzte sich für religiös und politisch Verfolgte und Inhaftierte ein. Ganz nebenbei war er auch literarisch höchst produktiv.
All das wäre ohne die Unterstützung seiner Frau, Sofia Tolstaja, niemals möglich gewesen. Ganz allein soll sie die 1650 Seiten von „Krieg und Frieden“ sieben Mal abgeschrieben haben. Kein Wunder, dass sie sich irgendwann mit dem Buch „Eine Frage der Schuld“ selbst Gehör verschaffte. Seine intensive Auseinandersetzung mit religiösen Fragen brachte Lew Tolstoi immer wieder in Konflikt mit der Kirche. In Folge der Veröffentlichung seines Romans „Auferstehung“, wurde Tolstoi dann 1901 schließlich exkommuniziert. Bis heute versucht sein Urenkel, den großen russischen Literarten zu rehabilitieren – bislang ohne Erfolg. Lew Tolstoi ist und bleibt ein Ausgestoßener. Auch politisch gesehen: Ein Gerücht wurde gestreut, in dem es hieß, Tolstoi sei geisteskrank. Das machte ihn im In- und Ausland unglaubwürdig und war gedacht, die Gefahr, die von dem Freidenker ausging, zu minimieren. Doch Tolstoi ließ sich nicht einschüchtern. Er zeigte sich nicht reuig für seine vermeintlichen Vergehen und begegnete der Synod, die ihn exkommuniziert hatte, mit unvermindertem Trotz. Nächstenliebe und Gewaltfreiheit blieben auch weiterhin das Credo von Leo Tolstoi, der eine Diktatur des Proletariats im kommunistischen Sinne ebenso ablehnte wie jede andere Form der Diktatur. In seinen letzten Jahren galt er als Vertreter des religiös inspirierten Anarchismus, wollte sich aber selbst nicht als Führer einer Tolstojanismus genannten Strömung sehen. 1910 verstarb Tolstoi auf einer letzten, spektakulären Reise an einer Lungenentzündung, umgeben von der Weltpresse. Ein dramatisches, aufsehenerregendes Ende für einen aufsehenerregenden Literaten.
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