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Lob der Fakten: Naturalismus in der Literatur

 

Der Naturalismus in der Literatur kennt eine große Frage: Was bliebe, wenn man den Menschen auf das Wesentlichste reduzieren würde? Diese Literaturepoche sieht ihn nämlich ausschließlich als Produkt seiner Umwelt und seiner Erbanlagen. So etwas, wie Geist oder Bewusstsein, gibt es in der naturalistischen Philosophie nicht, denn weder der Geist noch das Bewusstsein lassen (oder besser: ließen) sich (damals) wissenschaftlich beweisen. „Wenn es um die Beschreibung und Erklärung der Welt geht, sind die Naturwissenschaften das Maß aller Dinge“, fasste der amerikanische Philosoph und Naturalist Wilfrid Sellars den Grundansatz dieser Literaturepoche zusammen, die den Menschen lediglich in das zerlegt, was sich naturwissenschaftlich erklären und begreifen ließ. Der Mensch ist nicht mehr und nicht weniger als die Summe seiner Teile, ein Objekt, dem die Außenwelt geschieht und der darauf reagiert.

 

Auf das Wesen reduziert: Die Philosophie des Naturalismus

 

Es war vor allem Charles Darwin, der mit seiner Evolutionstheorie dazu beitrug, dieses neue Menschenbild zu kreieren. Bevor seine Theorie den Menschen ganz nüchtern zum Ergebnis evolutionsbiologischer Anpassungsprozesse degradierte, galt der Mensch als göttliche Schöpfung oder – für jene, die daran nicht glauben wollten – als glücklicher Funke, dessen Entwicklung absolut einmalig ist. Es wäre einer solchen Schöpfung unwürdig, zu glauben, sie sei von so niederen Dingen wie Umwelteinflüssen und Trieben bestimmt. Höhere Fügung, Schicksal, Genie – all das sind Aspekte des Menschlichen. Intellekt, Bildung und Erziehung prägten den Menschen, nicht seine Erbanlagen und das Milieu, in dem er aufwuchs. Losgelöst von der Natur schien der Mensch das Höchste zu sein, was diese Welt je hervorgebracht hatte. Die Naturalisten aber begannen Anfang des 20. Jahrhunderts, das ernsthaft infrage zu stellen. In der Zeit der Industrialisierung, in der der technische Fortschritt in rasantem Tempo die Welt bis zur Unkenntlichkeit veränderte und wissenschaftliche Erkenntnisse Weltbilder schneller veränderten, als man gucken konnte, konnten solche Ansätze nicht länger ihre Gültigkeit behalten. Jahrtausende lang hatten die gleichen Normen und Werte gegolten, hatte der Mensch nicht die Macht gehabt, die Welt um ihn so unwiederbringlich zu verändern, war ihr mehr ausgeliefert gewesen, als sie ihm. All das änderte sich nun schlagartig – und nichts war mehr, wie es einmal gewesen war.

 

Kurzer Überblick: Merkmale der Naturalismus-Literatur

  • Fußt auf den Erkenntnissen der Naturwissenschaften, z. B. Charles Darwins Evolutionstheorien, und der Philosophie des Positivismus
  • Über die Literatur die „wahre mathematische Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen“ erlangen und Gestalten vor dem geistigen Auge auferstehen zu lassen, „die logisch sind, wie die Natur." (Wilhelm Bölsche)
  • "Kunst=Natur-x", wobei x das Material der Kunst sei, also die "Reproduktionsbedingungen" (Sprache/dichterische Formen)
  • Anforderung: x soll gegen 0 laufen und so eine "treue Wiedergabe des Lebens unter strengem Ausschluss des romantischen, die Wahrscheinlichkeit der Erscheinung beeinträchtigenden Elementes“ (Michael Georg Conrad) ermöglichen
  • Der Mensch als Produkt aus Milieu und Rasse (Erbanlagen und soziale Verhältnisse)
  • Protest gegen soziale Missstände und den deutschen Obrigkeitsstaat

 

Auf Aktion folgt Reaktion: Der Naturalismus in der Literatur

 

 

Der Naturalismus in der Literatur ist die folgerichtige Reaktion darauf. Ähnlich der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert auf bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse reagierte und den Menschen dazu aufforderte, sich nicht länger fremd bestimmen zu lassen und sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen (vgl. Immanuel Kant „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“), forderte auch der Naturalismus in der Literatur dazu auf, überholte Vorstellungen und alten Aberglauben über Bord zu werfen und sich ausschließlich an belegbaren Fakten zu orientieren. Es war nicht länger notwendig, sich der Religion, übernatürlicher Phänomene oder gar Wunder zu bedienen, um die Welt zu erklären – dazu hatte man jetzt die Wissenschaft in all ihrer Präzession. In der Literatur fand der Naturalismus in genausten Beschreibungen Ausdruck. Das machte die Literatur im Naturalismus im Prinzip selbst zur wissenschaftlichen Methode. Die präzise, exakte und minutiöse Beschreibung diente der Entschlüsselung der Realität. Je genauer der Literat arbeitete, desto greifbarer wurde die Realität. Brach man jedes Ereignis auf jede einzelne Sekunde herunter, dann müssten sich darin alle Fragen beantworten, alle Geheimnisse lüften und alle Probleme lösen lassen. Dann wäre dort kein Platz für Wunder und übernatürliche Phänomene. Alles ließe sich logisch als Kette von Aktion und Reaktion und damit auf einer wissenschaftlichen Ebene erklären.

 

Der Sekundenstil ist deshalb das wohl typischste Merkmal des Naturalismus‘ in der Literatur. Dieser dokumentarische Erzählstil hat es sich zur Aufgabe gemacht, akribisch und sekundengenau die Wirklichkeit abzubilden. Das Besondere am Sekundenstil ist die Deckungsgleichheit zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit. Das bedeutet, dass jede Beschreibung eines Ereignisses genauso lange dauert, wie das Ereignis selbst. Dadurch wird die Beschreibung absolut lückenlos. Ein schönes Beispiel dafür ist eine Szene aus Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“: „Der Zug wurde sichtbar – er kam näher – in unzählbar sich überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen Maschinenschlote. Da: ein – zwei – drei milchweiße Dampfstrahlen quollen kerzengerade empor, und gleich darauf brachte die Luft den Pfiff der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell, beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? Und wieder gellten die Notpfiffe schreiend, den Widerhall weckend, diesmal in langer, ununterbrochener Reihe.“ Diesen Abschnitt zu lesen, dauert in etwa 20 Sekunden – und damit genauso lang, wie die Ereignisse in Echtzeit dauern würden. Kein Detail ist zu unwichtig, um Erwähnung zu finden, kein Lidschlag, keine Handlung irrelevant, um das Milieu zu verstehen und die Handlungen nachvollziehen zu können. Der Leser ist – um es mit dem Slogan von DSF zu sagen – „mittendrin statt nur dabei.“

 

Expressionismus: Der Untergang des Naturalismus in der Literatur

 

Doch eine solche Strömung, wie der Naturalismus in der Literatur, musste zwangsläufig eine Gegenströmung erzeugen. Auf Dauer lässt es sich der Mensch eben nicht gefallen, auf biologische, soziologische und neurologische Prozesse reduziert zu werden. Der Expressionismus in der Literatur, der sich kurz darauf entwickelte, geht davon aus, dass der Mensch viel mehr ist als nur die Summe seiner Teile. Er spricht ihm wieder das Menschliche zu, die Individualität, den Geist, das Bewusstsein, die Fähigkeit, sich milieuunabhängig zu entwickeln, sich auszudrücken und zu empfinden. So, wie Empfindsamkeit und Sturm und Drang in der Literaturgeschichte die Aufklärung ablösten, so löste der Expressionismus den Naturalismus in der Literatur ab. In einer Welt, die sich im Ersten Weltkrieg aufzulösen schien, in der Menschen zu bloßem Kanonenfutter und Arbeitsmaschinen degradiert wurden, fand er sich in der Literatur als Individuum wieder. Er musste an etwas glauben können, an etwas, dass das Leben lebenswert machte. Etwas, das ihm der Naturalismus niemals hätte bieten können.

 

Aber lesen Sie selbst! Diese Bücher aus dem Naturalismus haben wir für Sie zusammengestellt:

 

Von folgenden Autoren finden Sie auf literaturtipps.de interessante Buchtipps zum Naturalismus in der Literatur:

 

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