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Nackte Wahrheit: Die Neue Sachlichkeit in der Literatur

 

„Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres in der Welt gibt es, als die Zeit in der man lebt.“ Mit diesen Worten subsummierte Egon Erwin Kirsch im Vorwort zu seinem Roman „Der rasende Reporter“ den Grundgedanken der Neuen Sachlichkeit in der Literatur. Neue Sachlichkeit in der Literatur als Folge der Schrecken des Ersten WeltkriegesWir schreiben das Jahr 1920. Der Erste Weltkrieg ist gerade erst zu Ende gegangen und noch lange hat sich die Welt nicht von jenem Schock erholt, den dieser bislang verheerendste Krieg ausgelöst hatte. Nichts, was davor einmal gegolten hatte, hatte jetzt noch Bestand. Werte, Normen, Gedanken, Träume und Gefühle - in dieser neuen, vom Krieg erschütterten Welt war nichts mehr so, wie es einmal war. Wozu sich in Träumereien verlieren, sich in Gefühlsduseleien verfangen, wenn doch alles von einem Moment auf den nächsten vorbei sein konnte? Die Neue Sachlichkeit in der Literatur war Ausdruck dieses veränderten Weltbildes, das unbedingte Lebensbejahen einer neuen Generation, die sich in den wilden 1920er Jahren eine Volldröhnung Leben gönnte, die in ihren Exzessen keine Grenzen kannte – und doch vor allem Angst vor dem Sterben hatte.

 

Vorgeschichte zur Neuen Sachlichkeit in der Literatur

 

Wer erlebt hatte, was der Krieg mit den Menschen anstellte, wer Gräueltaten unvorstellbaren Ausmaßes gesehen hatte, wer all seine Lieben verloren und selbst nur mit knapper Not überlebt hatte, der konnte den Menschen nicht mehr als empfindsames Gefühlswesen, als Individuum, das Wertschätzung verdiente, betrachten. Für die Vertreter der Neuen Sachlichkeit in der Literatur lag ein zu starker Widerspruch zwischen der Literatur des Expressionismus und der real erlebten Wirklichkeit. Während sich die Expressionisten in ihren Texten auf innerlich gesehene Wahrheiten und Erlebnisse konzentrierten und an Humanität und Nächstenliebe appellierten, auf Frieden hofften und glaubten, dass der Kern aller Menschen ein guter sei, sahen die Vertreter der Neuen Sachlichkeit die nackte Wahrheit, die sich durch nichts beschönigen ließ. Viel mehr noch: Sie wollten sie gar nicht beschönigen. Das, was ihnen zugestoßen war, was sie erlebt hatten, ließ sich durch keinen rosa gefärbten Schleier betrachten, es ließ sich nicht durch Worte in Ordnung bringen. Es ließ sich nur ertragen. Und die einzige Form, dies literarisch zu tun, war, genau zu beobachten, zu studieren und abzubilden. Es war noch nicht lange her, da hatte es – Ende des 19. Jahrhunderts – schon einmal eine solche literarische Strömung gegeben. Unter dem Einfluss der Industrialisierung hatte sich der Realismus herausgebildet, der mit wissenschaftlicher Präzision daran arbeitete, die Wirklichkeit objektiv zu beobachten und künstlerisch wiederzugeben.

 

 

Diese künstlerische Bearbeitung aber sprachen die Vertreter der Neuen Sachlichkeit ihrer Literatur ab. Der Realismus wurde zur „Alten Sachlichkeit“, von der man sich dadurch abgrenzte, dass man das Dichten vollkommen unterließ, wie Joseph Roth im Vorwort zu seinem Roman „Die Flucht ohne Ende“ schrieb. „Das Wichtigste ist das Beobachtete“, lautete sein Credo. Damit schlugen die Vertreter der Neuen Sachlichkeit einen ganz neuen, in der Literatur nie dagewesenen Weg ein. Jahrhundertelang hatte die Kunst doch die Funktion erfüllt, die Wirklichkeit einzuordnen, die losen Teile, die für jeden sichtbar sind, in einen Zusammenhang zu stellen, aus dem der Leser Bedeutung ziehen konnte. Die Interpretation der Wirklichkeit durch das Individuum des Künstlers war doch die eigentliche Leistung von Kunst und Literatur. Doch die Neue Sachlichkeit erlaubte sich dieses Interpretieren nicht. Das Individuum war nichts wert in einer Zeit, in der Millionen von Menschen in einem Krieg ihr Leben verloren, in dem Arbeiter wahllos ersetzt werden konnten - durch andere unsichtbare Arbeiter einer ganzen Armee von Gleichen oder gar durch Maschinen, die die Arbeiten am Ende genauso gut ausführten wie die Menschen. Für die Vertreter der Neuen Sachlichkeit in der Literatur hatte das Individuum seine Deutungshoheit eingebüßt. Sie sprachen ihm ab, die richtende, interpretierende, verstehende Kraft zu sein, die die Wirklichkeit einzuordnen verstand. Der Mensch wurde selbst zu einem winzigen, unbedeutenden Teil in einem Uhrwerk, das er nicht verstand und das niemals still steht. Ein Uhrwerk, das sich nicht darum schert, ob der Einzelne seine Aufgabe erfüllt.

 

Ein neuer Fokus: Die Neue Sachlichkeit in der Literatur

 

Frau aus den 20er Jahren als Sinnbild des Lebensgefühls der Neuen SachlichkeitUnd wo man schon einmal dabei war, konnte man auch gleich alles über Bord werfen, was man bislang an Vorstellungen über Moral und das Zusammenleben der Menschen gehabt hatte. Gott schien aus der Welt verschwunden zu sein, es gab nichts mehr, an das man glauben konnte, es gab nichts mehr, wofür es sich lohnte, an den alten Regeln festzuhalten. Genauso gut konnte man sich in schrillen Farben und lauten Klängen den schönen Seiten des Lebens hingeben – ohne hier nach Sinn zu suchen, sondern einfach nur um des Lebens willen. Wer in den 1920er Jahren wilde Exzesse feierte, der hatte den Ersten Weltkrieg überlebt und so viel Schlimmes gesehen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Der war am Leben, hatte aber gesehen, wie Menschen alles verloren hatten, was sie vormals von den Tieren unterschied. Ohne jeden Glauben in die Moral des Menschen, ohne jede Hoffnung für die Spezies Mensch, blieb nur noch der Augenblick. Nichts anderes zählte mehr. In der Literatur der Neuen Sachlichkeit findet das Ausdruck im Fokus auf das Hier und Jetzt.

 

Wozu sich auch mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigen? Weder auf das Eine, noch auf das Andere hat man Einfluss. Was geschehen ist, ist geschehen; was passieren wird, wird passieren. Nur den Moment kann man beeinflussen. Oder wenigstens leben. Also beschrieben die Vertreter der Neuen Sachlichkeit in der Literatur ihre Gegenwart, sezierten sie, spiegelten die sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Probleme ihrer Zeit und bildeten eine Zeit der technischen Umbrüche und des rasanten Fortschritts ab. Doch auch wenn in dieser Studie der Gegenwart eine gewisse Gesellschaftskritik lag, sprachen sich die Vertreter der Neuen Sachlichkeit in der Literatur die Fähigkeit ab, diese zu bewerten. Kühle, distanzierte Beobachtungen waren alles, was sie sich gestatteten. Doch die Schwächen der Gesellschaft wurden auch in der reinen Niederschrift offensichtlich. Es war nicht notwendig, sie künstlerisch hervorzuheben. Die Form wurde deshalb zweitrangig. Nie zuvor war Kunst so schnörkellos und unkünstlerisch gewesen. Der Minimalismus wurde zum Ideal. Je weniger man schrieb, je schlichter man es schrieb, desto mehr erhielt das, was man schrieb, Bedeutung.

 

So wurde man dem unspektakulären Leben in der Massengesellschaft gerecht, einem Leben, in dem der Einzelne farblos verblasste. Dramatische Liebesgeschichten, bewegende Schicksale, wie man sie aus der Aufklärung und aus der Romantik kannte, aus den Dramen von William Shakespeare und Johann Wolfgang von Goethe – so etwas konnte es in dieser Welt nicht geben. Hier hieß es, am Morgen aufstehen, seinem Tagewerk nachgehen und am Abend erschöpft ins Bett fallen. Hier war kein Platz für romantische Träumereien. In der Nacktheit dieser Texte lesen wir eine gewisse Resignation. Doch wie hätten die Menschen damals auch noch an große Gefühle glauben sollen, an Menschlichkeit, an Schicksal oder einen Gott, nachdem der Erste Weltkrieg und die Industrialisierung ihnen alle Menschlichkeit genommen hatte? Rückblickend betrachten wir die Neue Sachlichkeit in der Literatur als jene Kunst, die sie sich selbst absprach. Denn auf ihre Weise zeigt sie uns heute, was geschieht, wenn die Menschen den Glauben an die Kunst verlieren. Wenn die Kunst verschwindet, dann geht mit ihr auch alle Menschlichkeit. Dieser nackten Realität, die aus den Werken jener Zeit heute zu uns durchdringt, können wir uns nicht verschließen. Das macht die Neue Sachlichkeit in der Literatur so bezwingend.

 

Diese Vertreter der Neuen Sachlichkeit in der Literatur finden Sie bei uns:


 

Lesen Sie Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun, ein typisches Werk der Neuen Sachlichkeit.

Lesen Sie auch mehr über die anderen Literaturepochen und werfen Sie einen Blick zurück in die Literaturgeschichte.

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