Serien als das Suchtmittel unserer Zeit
Es ist ein Satz, den man inzwischen so häufig hört, dass er einen schon längst nicht mehr verwundert: „Ich bin gerade süchtig nach…“ Es folgen dann die Titel der einschlägigen Serien, momentan wahlweise „Game of Thrones“, „Breaking Bad“, „How I met your mother“, „Grey’s Anatomy“, „The Walking Dead“ oder „Sherlock“. Auf Partys und im Gespräch mit Freunden sind Serien längst das Gesprächsthema Nummer eins. Was schaust du im Moment? Was kannst du empfehlen? Hast du das schon gesehen? War das gut? Ihre ständige Präsenz zeigt, dass die Serien längst ihren Weg hinter dem Flachbildschirm hervor, in die reale Welt geschafft haben. Sie nisten sich in unseren Alltag ein, werden ein Teil unseres Lebens, beschäftigen uns über die 45 bis 60 Minuten hinaus, die eine Folge dauert, und sorgen dafür, dass wir es kaum erwarten können, die nächste Dosis zu bekommen. Kurz: Serien machen süchtig.
Was das Phänomen der Serien ausmacht
Viel ist über dieses Phänomen schon geschrieben worden. Was die erfolgreichen US-amerikanischen Serien von deutschen Serien, wie GZSZ, Lindenstraße und Co. unterscheidet, sei die „hohe intellektuelle Raffinesse und handwerkliche Perfektion“, die sie „fast allen deutschen Serien weit voraus“ hätten, schreibt zum Beispiel die Zeitung „Die Welt“. Und tatsächlich: Serien haben dort und in Großbritannien längst das Budget von Hollywoodfilmen. Eine Episode „Game of Thrones“ (basierend auf den Romanen von George R.R. Martin) lässt sich die Produktionsfirma HBO zwischen fünf und zehn Millionen US-Dollar kosten. So schlägt eine ganze Staffel mit bis zu 100 Millionen US-Dollar zu Buche. Eine einzelne Folge „Breaking Bad“ kostet die Produktionsfirma AMC rund drei Millionen Dollar und für eine Episode von „Sherlock“, die die Geschichten um Sherlock Holmes in die Gegenwart überträgt, legt die BBC immer noch eine Millionen Dollar auf den Tisch. Damit sich diese Zahlen ins Verhältnis setzen lassen hier ein paar Bezugsgrößen: Eine Folge GZSZ kostet die Grundy UFA zwischen 70.000 und 80.000 Euro. „Inception“ wurde 2010 für 180 Millionen US-Dollar verfilmt, also für nur unwesentlich mehr als eine Staffel „Game of Thrones“ kostet.
Warum wir so schnell süchtig nach Serien werden
Das sieht man den Serien natürlich auch an. Die US-amerikanischen und britischen Serien sind nicht nur mit Hollywoodbudget produziert, sondern auch mit eben solchem Aufwand. Alles an ihnen - Optik, Ausstattung, Besetzung und Sets - zeugen von Hochwertigkeit und Qualität. Sie verleihen selbst den alltäglichsten Handlungen einen Glanz, eine Dramatik und eine Spur Drama, die uns als Zuschauer glücklich machen – eben weil sie auch ein bisschen auf das Leben vor dem Bildschirm abfärben. Der Suchtfaktor der Serien besteht vor allem darin, dass sie nicht dort bleiben und für immer auf ihrer DVD gefangen sind. Sie werden zu einem realen Element unseres Lebens. Weil Serien länger dauern als die üblichen 90 bis 120 Minuten, die ein Spielfilm in der Regel läuft, können wir uns ganz anders darauf einlassen.
Wir können eintauchen, abtauchen, abschalten und vergessen, dass es eine Welt gibt, die nicht Westeros heißt und um deren Thron keine fünf Könige streiten. Wir wissen, wir werden nicht gleich wieder unsanft in die Realität hinaus geschleudert. Wir können uns stattdessen in Ruhe mit den Figuren anfreunden, sie kennenlernen, ihre Eigenheiten und Marotten zu schätzen lernen und uns ein Bild von ihnen machen. Der erste Eindruck ist dabei nicht zwangsläufig der, den man am Ende der ersten Staffel von einer Person hat. Hält man alle Lannisters in „Game of Thrones“ am Anfang für schreckliche Menschen entdeckt man irgendwann, wie vielschichtig sie sind, was sie zu dem gemacht hat, was sie heute sind (Ausnahme ist vermutlich Joffrey). Man versteht sie, wie man gute Freunde versteht. Man heißt nicht alles gut, was sie tun, aber man weiß, warum sie so handeln, wie sie handeln. Eben weil man ihre Entwicklung von Anfang an mit verfolgt hat.
Wie Serien zu unseren Wegbegleitern werden
Das unterscheidet diese hochwertigen Serien auch von GZSZ und Co. Diese deutschen Vorabendserien erlauben zu jedem Zeitpunkt das Quereinsteigen. Immer wieder müssen die Figuren in unnatürlichen Dialogen wiederholen, was sich in letzter Zeit zugetragen hat, damit auch Neueinsteiger die Handlung verstehen können. Aus diesem Grund wird sich auch niemand jemals sämtliche Staffeln aus 22 Jahren GZSZ auf DVD holen. Das würde man sich niemals anschauen. Diese Serien werden für den Moment gedreht und leben auch von ihrer thematischen Aktualität. Damit spiegeln sie das Leben vor dem Fernseher. Das Leben der Figuren folgt dem gleichen Rhythmus wie das Leben vor dem Bildschirm. Immer wiederkehrende Handlungen suggerieren, dass das Leben der Charaktere parallel zu unserem abläuft. Das macht sie zu Wegbegleitern und treuen Gefährten, auf die wir uns verlassen können, die immer da sind, wenn wir um 19:45 Uhr an einem Wochentag RTL anschalten. Während sich die Welt in den letzten 22 Jahren dramatisch verändert hat, bildet GZSZ eine Konstante, eine verlässliche Größe, die den Fans Stabilität schenkt.
Ähnlich verhält es sich mit Serien aus den USA und aus Großbritannien – auch wenn die Ursache hier eine andere ist. Hier gibt es eine klare Entwicklung, die sich von Anfang bis Ende nachvollziehen lässt. Wer verstehen will, warum Meredith in „Grey’s Anatomy“ auf Derek sauer ist, der erfährt das nicht aus einer einzigen Folge. Er muss die Serie von Anfang bis Ende schauen – und schon ist er mitten drin in der Sucht nach Serien. Die gemütlichen Wohnzimmer, in denen Monika, Rachel und Phoebe, Ross, Chandler und Joey, Lennard, Sheldon, Raj und Howard, Charly, Allan und Jake ihre Tage verbringen, werden dann zu den behaglichen Wohnzimmern guter Freunde, in denen wir gerne zu Gast sind. Ihre Welten verschmelzen mit unseren. Wir kennen uns in ihrer aus und wandeln gedanklich darin umher.
Wie Serien unsere ureigensten Bedürfnisse befriedigen
Das hat etwas von dem Gefühl, das man hat, wenn man nach langer Abwesenheit nach Hause kommt. Aus diesem Grund kann man sich die 10 Staffeln von „Friends“ auch zum 20. Mal anschauen, die Dialoge mitsprechen, sich auf die persönlichen Highlights freuen – und sich trotzdem nicht langweilen. Man langweilt sich ja auch nicht, wenn man die beste Freundin zum Kaffee trifft und sie über die gleichen Beziehungsprobleme redet, wie schon vor einer Woche. Auch das kehrt wieder, aber auch das tangiert uns, ist ein wichtiger Teil unseres Lebens. Verstärkt wird dieser übergreifende Effekt der Serien dadurch, dass jede Serie inzwischen über eine eigene Website verfügt, dass es Blogs und Foren gibt, in denen man sich weit über die bloßen Folgen hinaus zur Lieblingsserie austauschen kann, dass die Darsteller in den Rollen ihrer Figuren twittern und bei Facebook posten, dass es Apps gibt, die die Serien begleiten (z.B. Sherlock - The Network) und dass Serien das Gesprächsthema auf jeder Party sind.
Man kann das Eskapismus nennen, aber man kann es auch als menschliches Bedürfnis nach ständigen Neuigkeiten, Entwicklungen und neuen Geschichten verstehen. Früher trafen sich die Menschen am Feuer und konnten es kaum erwarten, von Reisenden die neusten Geschichten aus aller Welt zu hören. Neuigkeiten sind ein emotionales Grundbedürfnis des Menschen. Später sorgten dann die Zeitungen dafür, dass dieses Bedürfnis befriedigt wurde. Honoré de Balzac und Herman Melvillelegten schon hier mit ihren Fortsetzungsromanen die Grundlage für die Serien der heutigen Zeit. Diese wurden nun folgerichtig dem neuen Medium entsprechend weiterentwickelt.
Die Fernsehserie ist die Geschichte am Feuer, der Fortsetzungsroman des 20. und 21. Jahrhunderts – und mit der Erfindung der DVD, von Pay-TV, Serien- und Filmflatrates (wie Watchever) und iTunes nun endlich zu seiner vollen Blüte gekommen. Bester Indikator dafür ist die Serie „House of Cards“ mit Hollywoodstar Kevin Spacey in der Hauptrolle. Geschrieben vom ehemaligen politischen Berater von Hillary Clinton, Beau Willimon, basiert die wegweisende Serie nicht nur auf den realen Gegebenheiten in Washington mit allen dazugehörigen Halbwahrheiten, Lügen, Intrigen und Machtkämpfen, sondern ist auch sonst höchst innovativ. Als erste Serie wurde sie nicht von einem Fernsehsender produziert, sondern von dem amerikanischen Streamingdienst Netflix. Damit ist „House of Cards“ die erste Serie, die von einem Internetdienst für das TV produziert wurde. 100 Millionen Dollar investierte Netflix in die ersten beiden Staffeln mit insgesamt 26 Folgen. Für den Zuschauer ist dieses Serien-Erlebnis nun kaum noch zu toppen. Und das ist noch lange nicht das Ende dessen, was wir von Serien erwarten dürfen. Noch nie war es so leicht, süchtig nach Serien zu werden. Und noch nie hat es so viel Spaß gemacht!
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Übrigens: Unser Bedürfnis nach Serien findet auch in der wahren Flut der Fantasy-Serien Ausdruck. Mit diesem Thema haben wir uns an anderer Stelle beschäftigt.
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