Wie sich der Bildungsroman weiterbildete
Wie der Name es schon vermuten lässt, spielt im Bildungsroman die Bildung eine zentrale Rolle. Zum einen als zentraler Handlungsgegenstand: Der Leser verfolgt den inneren Reifungsprozess eines Menschen vom jungen, naiven, unvollkommenen Grünhorn hin zu einem Idealbild, in dem seine geistigen und seelischen Anlagen vollkommen ausgereift sind. Zum anderen vermittelt der Bildungsroman selbst Bildungsinhalte, etwa Thomas Manns „Der Zauberberg“, der die Geschichte des Abendlandes vor den Augen seines Helden ablaufen lässt, bevor dieser sich entscheidet, in den Krieg zu ziehen. Die Bildung als verbindendes zentrales Element konnte aber nicht verhindern, dass sich der Bildungsroman im Verlauf der Literaturgeschichte veränderte. Denn nur selten bestand zwischen den Vertretern verschiedener Literaturepochen Einigkeit darüber, was Inhalt und Ziel der Bildung zu sein hatte.
Die wichtigsten Bildungsromane aller Epochen haben wir hier für Sie zusammengefasst:
- Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
- Candide oder Der Optimismus
- Das Glasperlenspiel
- David Copperfield
- Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend
- Der Fänger im Roggen
- Der grüne Heinrich
- Der Hals der Giraffe
- Der kurze Brief zum langen Abschied
- Der Steppenwolf
- Der Zauberberg
- Drachenläufer
- Ein Porträt des Künstlers als junger Mann
- Elementarteilchen
- Faserland
- Geschichte des Agathon
- Große Erwartungen
- Heine Steenhagen wöll ju dat wiesen!: Die Geschichte eines Ehrgeizigen
- Heinrich von Ofterdingen
- Jane Eyre
- Schlafes Bruder
- Tom Jones: Die Geschichte eines Findelkindes
- Tom Sawyer und Huckleberry Finn
- Vom Winde verweht
- Wilhelm Meisters Lehrjahre
Erstmals begegnen wir dem Bildungsroman in der Weimarer Klassik, wo natürlich kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe maßgeblich zur Entstehung dieser Romangattung beitrug. So wie Goethe schon mit „Die Leiden des jungen Werther“ das zentrale Werk des Sturm und Drangs geschrieben hatte, so sollte sein Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ den Standard für den klassischen Bildungsroman setzen. Ein Roman, dazu gedacht, den Leser in seinem Streben nach dem antiken Idealbild vom humanistisch gebildeten Menschen zu unterstützen. Hier finden wir auch bereits den charakteristischen Verlauf, an dem sich spätere Bildungsromane immer wieder orientieren sollten. Er lässt sich in den drei Stufen Jugendjahre, Wander- und Meisterjahre abbilden.
Die Idealvorstellungen des klassischen Bildungsromans
Im Einzelnen bedeutet das, dass der Leser zunächst einem jungen, naiven und im Sinne der Klassik unvollkommenen Menschen begegnet, dessen Kopf voller Ideen und Ideale ist. Damit steht der junge Erdenbürger in einem harten Kontrast zur realen Welt, die ihn umgibt und in der es für Träumer keinen Platz gibt. Verbittert über diesen „Bruch zwischen idealerfüllter Seele und widerständiger Realität“ (Jürgen Jacobs in „Wilhelm Meister und seine Brüder“) begibt sich der Held auf Wanderschaft. Damit ist nicht zwangsläufig eine Wanderschaft im Sinne einer Reise gemeint, wohl aber ein Lebensweg, auf dem er Erfahrungen sammelt, der Liebe begegnet, Rückschläge erfährt und seine eigenen Kämpfe mit der Realität der Welt austragen muss. Diese Erfahrungen mit seiner Umwelt prägen den Helden und verändern ihn – bis er sich schließlich im „harmonischen Zustand des Ausgleichs“ mit ihr befindet.
Er ist mit sich und der Welt versöhnt, hat seine geistigen und seelischen Anlagen voll ausgebildet und ist damit dem Ziel der vollendeten Humanität, dem die Klassiker nachstrebten, so nah wie möglich gekommen. Für den reiferen Goethe war selbstverständlich, dass der junge Mensch seinen individuellen, künstlerischen Selbstverwirklichungsanspruch überwinden und den Konflikt mit der gesellschaftlich verordneter Notwendigkeit zugunsten einer humanistisch-ganzheitlichen Bildung überwinden musste. So wie der einstige Stürmer und Dränger Goethe in der Klassik schließlich selbst zu Harmonie und Ausgeglichenheit fand. Der in sich ruhende, gute und schöne Mensch, in dessen Handeln Pflicht und Neigung sich in Übereinstimmung befinden, war das Erziehungsideal der Klassik und das bedeutete, dass der Mensch gegebenenfalls die eigene Neigung zu überwinden und so seine Erhabenheit und Würde unter Beweis zu stellen hatte.
Wie die Romantik den Bildungsroman veränderte
Im heutigen Leser stößt dieser Gedanke nicht selten auf Widerstand. In einer Zeit, die das Individuum und seine Selbstentfaltung feiert, können wir nur schwer akzeptieren, dass es das Ziel des klassischen Bildungsromans war, aus jungen Menschen voller Ideale angepasste, funktionierende Bürger nach antikem Vorbild zu machen. Auch den Romantikern stieß das auf. Der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770 – 1831) verurteilte in seiner „Vorlesung über die Ästhetik“ dieses zweifelhafte Bildungsideal, wenn "das Ende solcher Lehrjahre [darin bestehe], das sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr einen angemessenen Standpunkt erwirbt", um "ein Philister so gut wie die anderen auch“ zu werden.
Die Romantiker hatten nämlich eine ganz andere Vorstellung von einem erfüllten Leben – und die spiegelt sich auch in ihrer Version des Bildungsromans wieder. War es das Ziel klassischer Bildungsromane, den Helden (und damit den Leser) tauglicher für die Realität zu machen (und damit die Gesellschaft als Ganzes der Vollkommenheit ein Stückchen näher zu bringen), wandelten die Vertreter der Romantik in der Literatur die Gattung so ab, dass der Held am Ende des Romans seine Wunschvorstellung bestätigt fand. Anstatt in der Realität zu landen und sich mit ihr und sich selbst zu versöhnen, fand sich der Held in einer Utopie wieder, die die Sehnsüchte der Romantiker erfüllte. Man nehme nur Novalis‘ „Heinrich von Ofterdingen“, das Paradebeispiel für den Bildungsroman der Romantik: Obwohl unvollendet, kündet er doch ein Goldenes Zeitalter an, in dem Herz, Liebe und Frieden statt der Vernunft und des nüchternen Verstandes herrschen.
Im „Heinrich von Ofterdingen“ finden wir wohl auch die schönste Definition des Bildungsromans in der Romantik:
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.“
Das Ausklingen des Bildungsromans in der Moderne
Auch in späteren Literaturepochen gab es noch Bildungsromane, doch nie wieder waren sie so präsent und so charakteristisch wie in der Klassik und in der darauf folgenden Romantik. Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts kamen erste sogenannte „negative Bildungsromane“ auf, Romane, an deren Ende nicht der perfekte Mensch, sondern das Scheitern stand. Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“ ist das beste Beispiel dafür und traf, so Thomas Mann, so sehr den Nerv der Zeit, wie es seinerzeit „Die Leiden des jungen Werther“ im Sturm und Drang getan hatten. Am Ende dieses negativen Bildungsromans stand das Scheitern, der misslungene Bildungsgang. Weitere Abwandlungen der Gattung zeigen Entwicklungen, an deren Ende das Ziel der Bildung fragwürdig geworden ist. Ein gutes Beispiel dafür ist Thomas Manns „Zauberberg“: Trotz aller Bildung entschließt sich der junge Hans Castorp, in den Ersten Weltkrieg zu ziehen.
Im 20. Jahrhundert war der Bildungsroman darüber hinaus mit „Demian“ und „Das Glasperlenspiel“ von Hermann Hesse und der Parodie „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann vertreten. Hier sind nur noch schwer charakteristische Gemeinsamkeiten auszumachen, wenn man davon absieht, dass alle Romane die geistige Entwicklung eines Helden zum Inhalt haben. Nach seiner Blütezeit im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert führt der Bildungsroman heute ein unscheinbares Dasein, nur selten unterbrochen von Versuchen wie „Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky.
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